Lieber Mensch,

 

seit Jahren hat das Fenster geklemmt, sodass ich es erst jetzt öffnen kann und diese Neujahrsgrüße dich ein paar Tage verspätet draußen auf der Wiese erreichen.

Du fragst dich vielleicht, warum ich nicht den Vermieter kontaktiert habe, damit dieser das Fenster repariert. Vielleicht fragst du dich auch, ob meine Wohnung keine Tür hat, durch die ich sie verlassen kann.

Nein, meine häuslichen Fenster und Türen sind intakt, und das Fenster, das ich meine, ist das virtuelle Fenster zur Außenwelt, von dem ich mich lange zurückgezogen habe. Meine Website war seit 2021 eine Baustelle, auch aus den sozialen Medien hatte ich mich einige Jahre zurückgezogen.

In den letzten Jahren ist viel passiert. In dieser Zeit hat mir der Rückzug aus der digitalen Welt sehr dabei geholfen, wieder bei mir anzukommen. Das Schreiben hat mich wie zuvor begleitet, jedoch eher im stillen Kämmerlein.

In meinen Schreib- und Kreativ-Workshops ermutige ich seit 2018 Menschen mit Krisenerfahrungen zum Schreiben und anderen fantasievollen Erfahrungen.

Dabei lernte ich von den Besuchern der Workshops auf praktische Weise, wie heilsam sich kreative Wohlfühlorte in der Gemeinschaft auswirken.

Auch in Vorträgen stelle ich immer wieder die Kreativität als wohltuenden Faktor auf dem Genesungsweg in den Mittelpunkt.

Schließlich reifte in mir der Wunsch, meine Erfahrungen mit noch viel mehr Menschen zu teilen.

Und hier kommst du ins Spiel:

In den Beiträgen hier werde ich über mentale Gesundheit, das Schreiben und andere Formen der Kreativität erzählen, und du bist herzlich eingeladen, mit mir und den Leser:innen dieser Seite deine Gedanken und Erfahrungen zu teilen. Wie alles, was ich hier präsentiere, ist dies eine Einladung, die du natürlich genauso gut ablehnen kannst.

Jetzt denkst du dir vielleicht: „Wie kann er übers Schreiben unterrichten, wenn er in seinen Neujahrswünschen ‚Frohes Glück‘ wünscht? Ist das nicht eine Ausdrucksdoppelung – ähnlich wie der berühmte „weiße Schimmel“, bei dem das Wort „weiß“ überflüssig ist, weil Schimmel immer weiß sind?

Dieser Gedanke kam mir zuerst in den Sinn. Als Bildunterschrift hatte ich nämlich „Frohes Neues Jahr“ schreiben wollen, jedoch war ich in Gedanken versunken gewesen und schrieb: „Frohes Glück für 2025“. Beinahe hätte ich die Zeichnung zerrissen, doch dachte ich darüber nach.

War Glück wirklich immer positiv? Und ich begann, ein Cluster (ein Wortnetz, in dem zusammengehöre Wörter mit Verbindungslinien und Pfeilen verbunden werden) anzufertigen. Da wurde mir erst bewusst, wie facettenreich Glück sein kann. Glück kann nämlich auch melancholisch sein. Z. B. an einem verregneten Tag wie heute, an dem ich einen heißen Tee trinke und sehen kann, wie Regen und Sturm hinter dem Fenster wüten.

Glück kann trügerisch sein. Wenn ich mich z. B. mit Bier abfüllen würde, könnte ich höchst euphorisch sein, bis am nächsten Tag das böse Erwachen käme.

Glück kann klein sein – wie das Lächeln des Busfahrers, der dich freundlich zurückgrüßt, und es kann groß sein wie bei einem Sommertag in den Bergen.

Glück kann zufällig sein wie ein Lottogewinn oder gewollt wie die harte Arbeit an einem Musikstück, das du strahlend auf dem Klavier interpretierst.

Glück kann zweisam sein, wie ein Kuss zweier Liebenden, es kann einsam sein, wie eine behagliche Stille, in der sich die Gedanken wie von selbst sortieren, es kann frei sein, wie das Aufstehen am ersten Urlaubstag.

Je tiefer ich in diese Varianten des Glücks eintauchte, desto faszinierter war ich. Bei der Recherche stieß ich auf den Philosophen Wolfgang Schmid, der offenbarte, dass Unglück Glück bedeuten könne: Unglück sei deswegen Glück, weil es uns daran erinnern würde, wie begrenzt Glücksmomente sein können – ohne Unglück erfahren zu haben, könntest du das wahre Glück, dass ich bei meinem Neujahrswunsch als frohes Glück bezeichne, vielleicht überhaupt nicht empfinden. Kontraste helfen dabei, bewusst und achtsam zu leben – und unterstützen dabei, das Loslassen vom Guten und Schlechten zu lernen.

Wäre ich manchmal nicht im stillen Kämmerlein alleine, würde ich Zweisamkeit und die Treffen mit Freunden nicht so sehr wertschätzen, wie ich es tue.

Dir wünsche ich das wahre, dass reine, dass überraschende, das verdiente, dass achtsame, gemeinschaftliche, zweisame, lustige, freie, unbeschwerte „frohe“ Glück, ohne, dass du den Umweg über leidvolle Erfahrungen gehen musst.

Für mich bedeutet Glück, zu lieben und geliebt zu werden.

Für mich bedeutet Glück, kreativ zu sein und anderen dabei zu helfen, ihre Fantasie zu entfalten. Und es bedeutet für mich, eine liebevolle Partnerin und wunderbare Freunde zu haben.

Für mich bedeutet Glück zudem, das Fenster zu öffnen, und dir, liebe Leserin, lieber Leser, diesen Neujahrsgruß zu überreichen.

Das Wichtigste kommt jedoch zum Schluss: Was bedeutet Glück für dich?

Picture of Sebastian

Sebastian

Schreiben ist das bessere Träumen.

Dieser Beitrag hat 6 Kommentare

  1. Hanna

    Frohes Glück auch dir in 2025, lieber Sebastian!

    Sehr tiefsinniger Blogbeitrag und gleichzeitig persönlich nah – ein schöner Auftakt ins neue Jahr und in deinen Blog. Über das Glück werde ich die Tage etwas sinnieren. Wie du geschrieben hast, gibt es da ja sehr viele verschiedene Facetten und für jede Person ist es etwas anderes und auch Situationsabhängig.

    Bin gespannt auf deinen nächsten Blogbeitrag und Denkanregung – weiter so!

    Liebe Grüße,
    Hanna

  2. Sebastian Domke

    Liebe Hanna,

    vielen Dank dür dein Feedback und deine Ermutigung, weiterzuschreiben. Du hast recht, jeder Mensch versteht unter Glück sicher etwas anderes. Auch deswegen bin ich neugierig, welche Facetten sich da offenbaren.

    Liebe Grüße

    Sebastian

  3. Petra

    Lieber Sebastian,
    um deine letzte Frage aufzunehmen: Was bedeutet Glück für mich?
    Je länger ich über die Frage nachdenke, desto mehr habe ich Probleme zu beschreiben, was Glück für mich bedeutet. Das mag sein, dass ich Glück immer als etwas Flüchtiges betrachtet habe, eben nichts von Dauer, ein kurzer Moment.
    Ist glücklich sein und Glück dasselbe?
    Ein wunderbares Thema mit Freunden vor dem Feuer bei einem Glas Wein. Ist das Glück 🙂
    Auf jeden Fall ist dein Block ein wunderbarer Impuls zum Nachdenken. Ich freue mich auf den nächsten.
    Liebe Grüße
    Petra

    1. Sebastian Domke

      Liebe Petra,

      mit Freunden vor dem Feuer bei einem Glas Wein … ich denke dabei werden wunderbare Lagerfeuergeschichten erzählt … wenn es für dich Glück ist, dann ist es Glück :-). In unserer hektischen Zeit sehnen sich bestimmt viele Menschen nach solchen Momenten. Du hast etwas Wichtiges angesprochen: „Glück haben“ und „glücklich sein“ ist etwas anderes. Im Englischen gibt es fürs Glück haben z. B. das Wort „luck“ und fürs glücklich sein das Wort „happyness“.
      lch Danke dir fürs Teilen deiner Eindrücke und dein Feedback 🙂

      Liebe Grüße

      Sebastian

  4. Nadine

    Lieber Sebastian,
    was bedeutet Glück für mich?
    Glück bedeutet für mich auch die kleinen Momente des Lebens zu genießen. Ein schönes Frühstück zu Beispiel bzw. generell ein gute Essen. Glück bedeutet für mich aber auch jeden Morgen neben meinem Schatz aufzuwachen. Ich habe das Glück einen wunderbaren Schatz zu haben und ein tolle Wohnung. Glück ist für mich aber auch wenn ich jeden Tag ohne größere Probleme aufstehen kann. Wenn ich eine warme Dusche nehmen kann, macht mich das auch glücklich.
    Vielen Dank fùr deinen tollen Blockbeitrag. Er regt auf jeden Fall zum nach denken an. 😊
    Auf das was da noch kommt! 👍
    Liebe Grüße
    Nadine

    1. Sebastian Domke

      Liebe Nadine,
      vielen Dank für deinen Kommentar. So schön, dass du zu Hause so schön aufgehoben bist und einen Schatz an deiner Seite hast :-). Es freut mich, dass du sogar das Duschen wertschätzt. Meist nimmt man es als selbstverständlich hin, doch es gibt viele Menschen auf der Welt, die keine Dusche, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Wenn wir die richtige Brille aufsetzen, können wir glücklicher sein, als wir zuvor gedacht haben. Vielen Dank für deinen Blick, der dazu ermutigt, das wertzuschätzen, was man hat und sonst als selbstverständlich ansieht.
      Liebe Grüße
      Sebastian

Schreibe einen Kommentar