
Therese setzte sich unbemerkt ans Klavier und spielte „Claire de Lune“, ein Stück, das die Stimmung einer Nacht im Mondlicht einfängt. Es war ihr 16. Geburtstag.
Einige Gäste waren Professoren der Musikhochschule, an der auch Thereses Eltern unterrichteten.
Thereses Mutter schlug die Hand vor den Mund und stieß ihren Mann mit dem Ellbogen an.
„Oh nein, sie tut es schon wieder“, murmelte dieser, und dann kamen sie: Die tiefen, viel zu tiefen, schiefen Töne. Alle Anwesenden zuckten zusammen, alle bis auf Niklaas, einen Jungen aus Thereses Klasse, der gebannt zuhörte.
„Schluss jetzt, Therese“, sagte der Vater. „Ich habe dir schon hunderte Male gesagt, dass die Saiten des Klaviers gestimmt werden müssten.“
Therese kämpfte gegen die Tränen an „Das will ich nicht. Das ist mein Klavier“, sagte sie.
„Eimmal den Stimmhammer ansetzen, und es klingt wieder normal. Wann begreifst du das endlich?“, brüllte ihr Vater. Einige der Besucher schüttelten den Kopf, und, als Therese mit zitternden Händen damit fortfuhr, „Claire de Lune“ zu spielen, verabschiedeten sich die Gäste und fuhren nach Hause. Schimpfend und mit vor Zorn brennenden Wangen verließen Thereses Eltern das Zimmer.
Thereses Atem beschleunigte sich. Mit der Hand wischte sie sich über die Augen und sah sich um. Niklaas, der Einzige, der noch geblieben war, hatte sich neben sie gestellt.
„Ich denke mir, dass der zu tief geratene Ton nicht mehr gestimmt werden kann“, sagte er.
Therese nickte.
„Einige Saiten sind beschädigt und können nicht repariert werden. Eine Taste ist davon betroffen“, flüsterte sie.
Niklaas legte den Arm auf ihre Schulter.
„Aber das versteht dein Vater nicht“, sagte er.
„Genau.“ Theresa schluchzte. „Und ich … möchte auf dem … Klavier spielen, auch, auch auf der kaputten Taste, selbst … wenn es … grausam klingt. Aber … sie gehört zu mir. “
„Dein Stück, Claire de Lune, war bezaubernd, es klang so schön wie Mondlicht nur sein kann“. Niklaas tupfte ihr mit einem Taschentuch eine Träne von der Wange.
Therese senkte den Kopf.
„Aber dieser schiefe Ton …“
„Therese, wieviele Tasten hat das Klavier?“
„88.“
„Dann sind 87 davon absolut perfekt. Und weißt du was? Auch die eine defekte spielt für mich keine Rolle.“
„Wieso nicht? Sie klingt fürchterlich.“
„Ich habe eben nicht dem Instrument zugehört, sondern dir. Weißt du, du bist nicht diese defekte Taste. Noch nie habe ich ein so schönes Lied wie dein ‚Claire de lune‘ gehört.“ Therese blickte Niklaas aufmerksam an und sah, dass er die Wahrheit sprach.
In diesem Augenblick hätte er schwören können, dass er sah, wie in ihren Augen das Mondlicht funkelte.
Welche Gedanken und Gefühle löst die Geschichte bei dir aus? Ich freue mich schon jetzt auf einen Austausch in den Kommentaren.
Dieser Beitrag hat 2 Kommentare
Wenn alles auf der Welt perfekt wäre, wäre es auch trister 🙂
„Die defekte Taste gehört zu mir.“ Das ist ein schönes, aber auch mutiges Statement. Den Mut zu haben, trotz „Defekt“ das zu tun, was man für richtig hält. Ich finde, du hast das sehr stimmungsvoll umgesetzt.
Außerdem ist es zum Glück so, dass immer jemanden gibt, der das versteht. Niklaas sagt das genau richtig: „Ich habe eben nicht dem Instrument zugehört, sondern dir.“
Ich glaube, hier liegt sehr viel Wahres drin. Sieh den Menschen und hör ihm zu.
Danke für den schönen Text.
Liebe Petra,
sehr gerne :-), danke für dein Feedback. 🙂 Da hast du einen Punkt hervorgeheoben, der mir sehr wichtig ist. Wenn wir „dem Menschen“ und nicht dem „Instrument“ zuhören, dann sehen wir unser Gegenüber in seinem / ihrem wunderbaren Wesen – unabhängig von der Leistung.
Mir kommt noch der Gedanke, dass es manchmal auch gelingen kann, einen DEFEKT in etwas Schönes zu vewandeln. Vielleicht widme ich diesem Thema einen Blogbeitrag.